Baiju, Himmelslaternen und Novembernächte in der Ferne

November 2019.

Ach, wie schön, denkt sich E. Sie sieht ihre beiden Töchter in der letzten Zeit so selten. Klar, die haben beide ihre eigenen Leben mit Mann und Kindern und Job. Umso mehr genießt E. deshalb die gemeinsame Reise, die sie von ihren Mädchen (sie nennt sie noch Mädchen, obwohl es natürlich schon Frauen sind. Es werden trotzdem immer ihre Mädchen bleiben) zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ein teures Geschenk, aber M., die Große verdient ja sehr gut als Head of Human Resources bei diesem amerikanischen Unternehmen und der Mann von C. scheint es auch gut zu laufen mit den Immobilien – wobei die Arbeit wohl zeitintensiv ist, weshalb er C. eine gewissen finanzielle Freiheit gönnt.

Sie sitzen am Ufer des Flusses und genießen die kühle Luft. Die kleinen Schlückchen Baiju wärmen von ihnen, während sie warm eingepackt die untergehende Sonne beobachten. Plötzlich holt C. etwas aus ihrer Tasche. Zur Feier des Tages, meint sie. Weil es so eine schöne Zeit sei und sie gelesen habe, es würde Glück bringen, wenn man das Glück in diesen Momenten in den Himmel schickt, war es für sie ein Wink des Schicksals, als sie heute beim Bummel durch die Stadt diese Himmelslaterne gesehen habe. Sie kaufte sie.

Von Himmelslaternen hat E. noch nie gehört. Für sie sieht das wie ein kleiner Flugballon aus und eigentlich ist es auch genau das. C. entzündet ein kleines Feuer in dem Behälter unter dem Ballon, die Luft darin wird erwärmt und die Laterne steigt gemächlich nach oben.

Ob das schlimm sei, dass der Wind die Laterne Richtung Stadt wehe, fragt M. Nein, das sei nicht schlimm. Die Laterne wird irgendwann langsam zu Boden sinken, nachdem das Feuer aus sei und die Luft im Ballon sich abkühle… was bestimmt auch so passiert wäre, aber es ist kalt in dieser Nacht in Wuhan, die Luft konnte sich nicht so sehr erwärmen, wie für eine ordentliche Flughöhe nötig gewesen wäre und die Laterne fliegt deshalb nicht hoch und in die Ferne, sondern über bewohntes Gebiet der Stadt.

So langsam wird auch C. klar, dass hier etwas gehörig daneben geht, aber sie weiß nicht, was sie tun soll. Die Laterne ist schon weit weg. Sie sieht in die ratlosen Gesichter ihrer Mutter und ihrer Schwester, denen auch nicht klar wird, was hier gerade passiert. Schnell werfen sie die Plastikgläser und die Flasche mit dem kleinen Rest Baiju in den Müll und laufen in Richtung der Laterne.

Sie kommen zu spät. Durch den trockenen Herbst war das ohnehin spröde Holz, aus dem die riesige Markthalle gebaut anfällig für das Feuer des Ballons, das noch heiß und heftig brannte. Die Flammen des brennenden Marktes sind bis weit ins Hinterland zu sehen, das Schreien und Kreischen der Tiere, die von den Händlern über Nacht zurückgelassen wurden, um am nächsten Morgen wieder frisch für die Kundschaft geschlachtet zu werden, ist eine Kakophonie von Leid. Krächzende Pangoline, das Geräusch, der wegen der Hitze berstenden Schlangenkörper, das für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbare Jaulen der Fledermäuse.

E. sieht die Panik in den Augen ihrer Kinder und spürt, wie genau diese Panik sich in ihr selbst ausbreitet. Was haben sie getan? Die Flammen werden immer mehr, eine gewaltige Rauchwolke schiebt sich in den Himmel, der Geruch nach verbranntem Fleisch hängt in der Luft, vermischt mit dem beißenden Gestank der verbrannten Kühlschränke, elektrischen Leitungen und den Millionen von Plastiktüten, die dort überall hingen.

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Die Untersuchungen rund um die abgebrannte Markthalle dauerten Wochen. Das Ergebnis war, dass tatsächlich die Himmelslaterne der drei Frauen den verheerenden Brand verursacht hatten. Die chinesische Regierung stimmte zu, dass den Verursachern in Deutschland der Prozess wegen dieser Tragödie gemacht wird. Die Verhandlung dauert an.

Bei dem Brand kam der gesamte Tierbestand der noch lebenden Tiere in der Halle ums Leben. Darunter auch einige Fledermäuse, die ein Händler im hinteren Bereich feilbot. Er hatte sie vor ein paar Tagen günstig im Hinterland erstanden und hoffte, sie hier für einen akzeptablen Preis verkaufen zu können. Ein paar Tage vor dem Brand hatte es leider nicht geklappt und die Tiere hatten schon angefangen, sich gegenseitig zu attackieren. Und jetzt waren sie weg. Verbrannt. Was gut war, denn sie hatten einen neuartigen Virus in sich, der sehr gefährlich für die Menschheit geworden wäre. Nun waren die Fledermäuse weg und mit ihnen der Virus. E. und M. und C. sei Dank.

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Das wäre zu schön gewesen. Leider waren die drei Damen nicht in China, sondern an Silvester in Krefeld, wo sie zwar die gleiche Idee bezüglich Himmelslaterne hatten, aber statt virusübertragenden Fledermäusen viel zu viele Affen abgefackelt haben. Aber wer weiß: vielleicht schlummerte in diesen Affen ein ebenso fieser Virus, der sich via Bananenschalen, die zum Düngen für Linsenpflanzen verwendet werden verbreitet. Der Virus ist dann in den Linsen, wird bei Trocknung zwar abgeschwächt, aber beim Quellen und Kochen wieder aktiviert und ist dann gefährlich für den Menschen. Nicht in kleinen Dosen, aber beim übermäßigen Verzehr, wo sich der Virus dann im Gehirn anreichert und schwupp wird aus einem veganen Koch ein Kämpfer für die Freiheit im Untergrund.

Wie sich zeigt, haben uns E. und M. und C. auch davor nicht bewahrt – oder sie waren einfach zu spät. So oder so gilt: Finger weg von diesen bescheuerten Himmelslaternen! Und Fledermäusen.

Runter mit der Wolle

Seit gestern gibt es weitere Lockerungen und eine davon betrifft Frisörinnen und Frisöre: sie dürfen wieder öffnen. Gott sei Dank! Endlich! Das wurde aber auch Zeit! Systemrelevant! Aber sowas von!

Wahrscheinlich wird es auch für die Frisörinnen und Frisöre nicht einfach nach all der Zeit. Es kommen Menschen mit Haaren, die sie weder aus der Ausbildung, noch aus den vielen Jahren Berufserfahrung kennen. Da ist es mit dem üblichen Werkzeug nicht getan. Wahrscheinlich kommt die Stihl Kettensäge zum Einsatz, um den gröbsten Wildwuchs mal wegzufräsen, anschließend mit der Machete die ungefähre Richtung der finalen Frisur vorsäbeln. Im Nebenzimmer füllt der Azubi den Kärcher Dampfstrahler neu mit Haarfärbemittel auf, während das sonore Brummen, des Notstromaggregats im Garten zu hören ist, weil das Stromnetz unter der Last der vielen Trockenhauben zusammenbrechen würde.

Ich werde das vor Ort überprüfen: für Ende Mai habe ich einen Termin bekommen.

Und irgendwann wird man LKWs durch Deutschland fahren sehen, die gewaltige Rollen transportieren. Auf den ersten Blick sieht es aus wie gewaltige Toilettenpapierrollen und man wird sich an die Anfangszeit von Corona erinnern, als es nirgends Klopapier gab. Tatsächlich sind es aber riesige Mengen an Baumwollbahnen, die auf den Anhängern liegen. Und man wundert sich.

Es werden auch viele, sehr viele Tanklaster unterwegs sein, aber in den Tanks werden weder Öl, Benzin, noch Lebensmittel wie Milch oder ähnliches transportiert: Diese Wagen sind prall gefüllt mit flüssigem Wachs.

Das wird die Zeit sein, wenn auch die Intimfrisöre und Waxing-Studios wieder aufmachen dürfen.

Wenn die Gondeln Trauer tragen

Ab und zu sollte man sich auch mal etwas Kultur gönnen. Das war bei mir gestern mal wieder der Fall – hauptsächlich deshalb, weil in meiner Amazon Prime Watchlist schon seit Monaten „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ vor sich hinvegetiert und ich zum einen Angst habe, dass der bald aus dem Programm geworfen wird und zum anderen mein schlechtes Gewissen, dass mir irgendwelche Stand-Up-Comedys und Serien über einen alternden Raumschiff-Kapitän wichtiger sind, als ein Klassiker der Kinogeschichte. Und das ist „Wenn die Gondeln Trauer tragen“; immerhin sagt der Titel sogar mir was und Donald Sutherland spielt mit und überhaupt. Fehlt eigentlich nur noch ein Soundtrack von Mancini, aber dem ist wohl nicht so.

Der Film ist schon was älter. Aus dem Jahr 1973, um genau zu sein, was „was älter“ schon mal auf eine ganz andere Ebene hievt. Tatsächlich ist er also alt und das merkt man ihm auch an. Schon die ersten Sequenzen machen klar, dass LSD damals durchaus noch ein Thema war und Rauchen war ohnehin nicht nur geduldet, sondern schon fast ein Muss. Wenn jemand nicht rauchte, machte es die Person gleich mal verdächtig und ein unsichtbares „Mörder“ klebte fortan auf der Stirn. Bei „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ wird eifrig geraucht. Und düster vor sich hingelebt. Die Story ist eigentlich schnell erzählt: ein Paar in England verliert die Tochter (sie ertrinkt, aber weil ständig so ein Ball rumschwimmt und viel mit der Farbe „Rot“ gearbeitet wird, habe ich die ganze Zeit auf den Horror-Clown gewartet. Kam aber nicht. Kein Wunder: ES war zu dem Zeitpunkt weder geschrieben, geschweige denn verfilmt), lebt und arbeitet später in Venedig, wo Morde geschehen, eine blinde Frau und deren Schwester auftauchen, ein Hauch von Akte X und Geschichten aus der Gruft mischen sich in die Grundstimmung und immer wieder jemand in einer roten Jacke, wie das Mädchen, als es ertrank. Es passieren seltsame Dinge, man weiß nie so recht, was, wie, wo warum passiert und es ist einigermaßen spannend, aber auch verwirrend und eigentlich schaut man nur weiter, weil man wissen möchte, was das nun eigentlich Sache ist.

Das Material für Filmrollen scheint 1973 preislich im unteren Segment angesiedelt gewesen zu sein, weshalb man es sich erlauben konnte, sehr viel davon zu verwenden um das Rohmaterial für „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ zu drehen. Nun sind in dem Film einige hervorragende Schauspieler vertreten, aber trotzdem: um auf einen Gesamtfilmlänge von 105 Minuten zu kommen, braucht es schon ein paar Meter Filmrolle. Für eine Geschichte, die man auch locker in einer Episode von X-Faktor: Das Unfassbare unterbringen könnte, rechnet man da schon genauer, wenn die Rollen auf dem Preislevel von Toilettenpapier vor ein paar Wochen wäre.

Ich habe mir den Film bis zum Ende gegeben, obwohl der Drang meinetwegen als Kultur-Verweigerer, aber dafür weniger genervter Mensch durchs restliche Leben zu wandeln teilweise schon sehr erdrückend war. Ich hab also die ganzen 105 Minuten durchgehalten und ja: die GANZEN 105 Minuten, weil: nach 102 Minuten, als der eigentliche Film zu Ende war und der Abspann lief, war ich mir sicher, dass da noch was käme. Kommen musste! Tat es aber nicht.

Sagen wir mal so: mir tun die armen Leute leid, die den Film 1973 im Kino gesehen haben, denn damals gab es noch kein Internet und somit auch kein Wikipedia. Letzteres war nämlich die Seite, die ich nachdem auch nach 105 Minuten und somit dem Ende des Abspanns immer noch ein riesiges Fragenzeichen Dirk-Nowitzki-gleich – also sehr groß – über dem Fernseher, über meinem Kopf und irgendwie allgegenwärtig im Raum schwebte. Ein Fragezeichen, das Sinnbild war für eben jene Frage, die blieb, nämlich der Frage: Häh?

„Wenn die Gondeln Trauer tragen“ bekam einige Preise, wurde für ein paar mehr nominiert, er zählt laut einer Umfrage zu einem der besten britischen Filme und es gibt Anspielungen auf diesen Film in anderen Filmen. Warum ist mir nicht so ganz klar. Vielleicht lag es am fehlenden LSD, vielleicht ist Kultur einfach nichts für mich, vielleicht liegts auch an der fremd anmutenden Ästethik dieser Zeit. Allerdings kam 1974, also nur ein Jahr später Emanuelle raus und den fand ich nicht übel.

Gefangen auf den Malediven

Vorhin auf Spiegel Online gelesen, dass noch Hunderte Reisende auf den Malediven festsitzen. Die Ärmsten, das ist natürlich tragisch. Gefangen im Paradies. Da ist Lagerkoller vorprogrammiert. Man kann sich die dramatischen Szenen richtig vorstellen.

„Was gibts heute zu essen? Fisch? Schon wieder Fisch??? Ich kann keinen Fisch mehr sehen!“

„Beschissener Sonnenuntergang! Keiner will Dich sehen! Vom mir aus kannst Du den ganzen Tag hier bleiben, dämliche Sonne. Oder für immer wegbleiben. Mir egal!“

„Ohhhhrrrrrrr, regnet es auf dieser verkackten Insel eigentlich nie??? Immer nur Sonne, Sonne, Sonne. Wieso wachsen diese blöden Palmen eigentlich? Brauchen die keinen Regen? Was sind das für Palmen? Trockenpalmen, oder was? Und überhaupt… Palmen. Ich hasse Palmen!“

„Giesela, ich hasse Dich!“ „Ach, Bärchen, lass das doch nicht so an Dich ran, dass wir hier festsitzen.“ „Das hat damit nichts zu tun, ich hasse Dich auch so!“

„Da draußen springen schon wieder diese verfluchten Delfine im Meer rum. Die machen sich über uns lustig! Geht weg, ihr Mistviecher. Ihr seid doch auch nur schwule Haie!“

Und kaum hat man sich beruhigt, wird einem das Frühstück unter der Tür durchgeschoben. Es gibt Fisch…

Das ist alles nicht schön und anstrengend, aber auch wenn man das Pech hat, aktuell auf den Malediven zu sein und nicht weg kann, sollte man immer daran denken, dass andere noch schlimmer dran sind.

Irgendwo sitzt zum Beispiel ein junges Mädchen und starrt durchs Küchenfenster hinaus in die Freiheit, in die sie wegen Corona gerade nicht darf. Wie gerne würde sie sich mit Freundinnen treffen, ein bisschen quatschen, sich gemeinsam Schminktutorials bei YouTube anschauen und andere Jungemädchendinge tun. Geht aber nicht, weil sie in diesem Haus gefangen ist.

Eine schwitzige Hand legt sich auf ihre zarte Schulter und reißt sie jäh aus ihren Träumen.

„Was ist los, Mädchen? Ist Dir langweilig?“

„Ach, neee, hab nur das tolle Auto in der Auffahrt angeschaut, das ich Dir geschenkt habe.“

„Das war eine tolle Aktion. Schau ich mir immer wieder an und dann wird mir ganz warm ums Herz, weißt Du…“

Sie weiß, was jetzt kommt. Sie schließt die Augen und versucht zumindest halbherzig zu lächeln, als eine Stimme in ihr Ohr säuselt: „Genaugenommen ist mir jetzt auch schon wieder warm…. Dir nicht, Laura-Mäuschen?“
„Doch, mir auch, Michael. Und wie“, seufzt sie und folgt dem alten Mann mit dem schwarzgefärbten Haar Richtung Schlafzimmer. Eigentlich wäre der Virus ja für ihn gefährlicher als für sie, denkt sie, aber erschrickt dann doch über sich selbst. Aus dem Schlafzimmer hört sie ihn leise singen „Sie liebt den Diiiiiiiii Jaaaaaaayyyyy“… andererseits ….